Wir brauchen nicht viel
- Leo

- 8. März 2023
- 3 Min. Lesezeit

Ich verstehen Menschen nicht die 65 Jahre den ganzen Tag über Knochenarbeit leisten und am Ende ihres harten Lebens zu zweit drei Tage an einem Hühnerbein essen und finden das reicht völlig.
Lieber arm und glücklich als reich und krank.
Bescheidenheit ist eine Zier.
Schlechten Menschen gehts immer gut.
Bullshit!
Ich bin ein Wendekind. Aufgewachsen mit der Elterngeneration Mangelwirtschaft. Und der Grosselterngeneraion Kriegstrauma.
Meine Familie zerbrach am Mauerfall.
Vater Trinker. Mutter depressiv. Großeltern ABM und Vorruhe.
Wir blieben zurück mit dem Nötigsten zum Überleben.
Meine Kindheit bedeutete:
Zuhause im Plattenbau.
Sparen. Improvisieren.
Dabei stets rege und fleißig sein um irgendwie durch zu kommen.
Auch damit wir uns nicht so unnütz vorkommen in der neuen Welt in der wir nicht mehr mithalten konnten.
Mangel.
Sparen.
Aufmerksamkeit für Leistung,
Fleiß und Bescheidenheit.
Gesellschaftstauglich bleiben und schön unauffällig.
Damit keiner sieht wie kaputt wir eigentlich sind.
Nicht auffallen haben wir gelernt in der DDR.
Wer auffiel wurde schnell aussortiert. Unternehmertum war staatlich und gesellschaftlich verpönt.
Psychische Krankheiten gab es nicht.
Auch keine Eheprobleme.
Erst nach der Wende platzten Frauenschutzhäuser und Psychiatrien aus allen Nähten.
Vorher bedeutete psychische Krankheit und Unzufriedenheit in der Ehe für Frauen ein blaues Auge und wirtschaftlichen Ruin.
Die einzige unverheiratete Frau in meinem Dorf zu Ostzeiten galt als Prostituierte, ihr Sohn als verhaltensauffällig.
Das alles hat sich tief eingebrannt.
Anders sein ist gefährlich.
Reich sein ist schlecht.
Krank sein im Kopf gibt es nicht.
Beziehungskrisen auch nicht.
Und weil es das nicht gab sprach man auch nicht drüber.
Wir haben Angst uns auszugrenzen wenn wir nicht ins Kollektiv passen.
Wir haben Angst nicht mehr dazu zu gehören wenn wir anders sind als unsere Familie und unser "Clan".
Ausgrenzung bedeutete Tod - schon in der Steinzeitherde, aber auch in einer Tauschwirtschaft.
Das nahmen wir mit.
In den Job. In die Familie.
In den Freundeskreis.
Still und angepasst sein, ruhig und unauffällig.
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Als wir neu in den Neubaublock zuzogen beschwerten sich die Nachbarn oft über mich, weil ich so ein lautes Kind war.
Die Kinder vorher waren viel leiser.
Wie peinlich... für meine Mutter.
Mir war es egal. Bis ich so alt wurde dass mir das Befinden meiner Mutter wichtiger wurde als mein eigenes.
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Das neue Konzept Marktwirtschaft kam auch 30 Jahre nach der Wende weder im Kopf meiner Familie noch in meinem an.
Meine Mutter hat den Wandel nicht überlebt. Sie brauchte immer viel Liebe und Anerkennung.
Als das mit Leistung, Liebsein und Nützlichsein nicht mehr funktionierte hat es ihr Körper mit Krankheit versucht.
Das klappte zwar - doch leider anders als sie es sich vorgestellt hatte.
Ich tat es ihr Jahre später gleich. Ebenso erfolglos.
Bis heute.
Mein Vater konnte sich kurz vor der Rente noch retten. Ein paar Jahre Rest-Leben ist nun noch übrig. Nicht viel im Verhältnis zu 60 Jahren Kampf und Mangel.
Meine Großeltern arbeiten immer noch täglich im Garten. Körperlich wirken sie gesund für ihr Alter. Um ihre Seelen wissen nur sie selbst Bescheid. Zunehmender Rückzug vor allem was die Gesellschaft bereit hält zeugt von keinem großen Vertrauen ins Heute.
Vielleicht sind sie alle nun noch glücklich geworden nach den vielen Dramen und Umbrüchen.
Vielleicht reicht ihnen ihr finanzielles und körperliches Existenzminimum aus um zufrieden zu sein.
Vielleicht bin nur ich es, die hinter dem schönen Garten und dem Wetterbericht immer noch das große Drama sieht.
Vielleicht fühlen sie sich mit ihrem ständigen Machen und Tun nützlich und gebraucht in einer modernen Welt, die sie offenbar nicht mehr braucht.
Ist es von mir verwerflich mir entgegen den Werten meiner Familie ein Leben zu wünschen, in dem ich mir nicht bis zur Rente den Rücken krumm buckeln muss, tun kann was ich will und einfach nur sein darf?
Muss ich mich entscheiden zwischen den Werten meiner Familie und meinen ureigenen Bedürfnissen um mich wertvoll zu fühlen ohne mich täglich an die Leistungsgrenze zu treiben?
Ist all das vielleicht auch nur Gedankenspielerei um mir selbst endlich zu erlauben, nichts mehr müssen zu müssen, weil ich mir die Erlaubnis noch immer nicht selbst geben kann?
Ich will mehr.
Mehr Leben.
Mehr Geld.
Mehr Essen.
Mehr Aufmerksamkeit.
Denn ich komme aus einer selbst auferlegten jahrzehntelangen Mangelwirtschaft.
Irgendwann werde ich mir wieder genug sein.
Genug haben. Genug tun.
Dann, wenn das Energiedefizit irgendwann ausgeglichen ist.
In meinem Körper.
In meiner Seele.
Dann wird auch Platz sein für ein Mehr.
das ich dann auch verarbeiten kann.




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