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Beitrag: Blog2 Post

Wieder zu Hause und doch noch fremd

  • Autorenbild: Leo
    Leo
  • 18. Apr. 2023
  • 4 Min. Lesezeit
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Es ist alles relativ, sagt man.

Bullshit!

Gefühle sind nicht relativ. Sie sind immer wahr!




Wegen der Handwerker in meinem Haus bin ich heute Nachmittag zu meinen Großeltern geflüchtet.

Wir aßen gemeinsam Omas Linsen, die besten der Welt. Ich wurde nicht satt von einem Teller nach dem hektischen Tag im Büro, traute mich aber nicht nachzunehmen. Zu groß die Angst wieder Kommentare zu bekommen wie die von meinem Arzt:

Pass lieber langsam mal auf, sonst ärgerst du dich wieder wegen deinem Gewicht. Etc.


Die Mittagsruhe verbrachte ich anschließend in meinem ehemaligen „Kinderzimmer“. Ganz viele alten Gefühle kamen hoch. Ich erinnerte mich an die Zeit während meiner ED die ich teilweise noch hier in diesem Haus verbrachte, an die ganze Hilflosigkeit meiner Familie und an meine eigene, trotz all ihrer gut gemeinten Hilfe und Liebe zu genesen.


Das sich ständig anpassen müssen. Das keine Ruhe finden wenn sie unten arbeiten. Das sich faul fühlen. Das irgendwie immer abhängig und eingeschlossen sein in einem Umfeld, das meinen wahren Bedürfnissen nicht entsprach. All die unterdrückten Anteile, für die ich mich schämte und die sich nur im Rahmen meiner Sucht ihren kraftvollen und hässlichen Weg nach außen bahnen konnten. Die Sucht brach Mauern, die ich selbst nicht brechen konnte. Und sie setzte die, die ich nicht zu setzen im Stande war.


Aus Rücksicht.


Ich war damals so dankbar, dass sie mich bei sich aufgenommen hatten. Wollte nicht zusätzlich Probleme machen. Wollte lieb und artig sein, ordentlich und eine gute und verständnisvolle Zuhörerin. Wollte mit Leistung in der Schule und Anpassungsfähigkeit glänzen, wenn ich schon im Haushalt nur Unruhe verursachte und nicht wirklich helfen konnte.


Heute ist so vieles anders. Ich bin kein Kind mehr.

Ich kann jetzt Opa mit Hilfe von Youtube-Videos helfen, seinen zugestöpselten Waschbeckenabfluss offen zu kriegen und Oma zeigen wie sie ihre Whatsapp-Nachrichten am Tablet schreibt. Ich kann mir ihre Geschichten von früher anhören, ohne mich damit genervt oder überfordert zu fühlen, denn inzwischen habe ich genug andere Ohren um mich herum, die sich auch mal meine Geschichten anhören.


Ich kann darüber hinweg sehen, dass es nur Miniportionen gibt und mich später zuhause so satt essen, wie ich es gerade brauche. Ich kann auch die Verantwortung für mein Essen und meine Heilung selbst übernehmen und muss mich nicht mehr darüber aufregen, dass sie dafür kein Verständnis und nicht das nötige Feingefühl aufbringen. Woher auch? Wenn ich die Geschichten aus dem Krieg höre, von der Flucht, von all dem Leid und den Widrigkeiten die ihnen in ihrem Leben schon widerfahren sind, komme ich mir immer wieder lächerlich vor mit meinem Problem.


Ich weiß aber heute, auch, dass meine Probleme keinesfalls lächerlich sind und dass man Gefühle und Probleme niemals vergleichen sollte.


Für mich fühlen sich meine Ängste durchaus an wie realer Krieg, wie Flucht, wie Verlust, wie Tod.


Es ist alles relativ, sagt man.

Bullshit!

Gefühle sind nicht relativ. Sie sind immer wahr!


Wenn ich mich in meinem neuen Körper fühle wie auf der Flucht im Krieg ist das für mich genauso real wie für Oma und Opa ihre Flucht aus der Stadt, als die Russen kamen. Das eine ist nicht mehr oder weniger traumatisch als das andere. Und das eine fühlt sich nicht mehr oder weniger schlimm an für den Betroffenen in dem Moment in dem es geschieht.


Gott sei Dank bringe ich inzwischen genug Verständnis dafür auf, dass Oma und Opa das anders sehen. Woher sollen sie auch wissen wie ich mich fühle, wenn sie irgendwelche Kommentare über mein Essen oder mein Aussehen machen? Und wie zum Teufel kann ich mir anmaßen diese Gefühle mit ihren zu vergleichen? Ich kann ebenfalls nur mutmaßen. Zuhören und feinfühlig genug sein, meinerseits das nötige Verständnis aufzubringen für all das was sie durchleben mussten und ihr daraus rührendes Mitteilungsbedürfnis. Schließlich haben sie nur mich, die zuhört, keine Selbsthilfegruppe, keine anderen Enkel, keine Freunde weil die meisten weggestorben oder krank sind und auch keinen Blog.


Mein neues Denken muss sich noch Wandeln in neues Fühlen. Alles was ich gelernt habe ist noch immer nicht ganz in meinem Herzen angekommen. Immer wieder bin ich das 12-jährige Mädchen von damals, wenn ich in diesem Wohnzimmer am Kaffeetisch sitze.


Immer wieder muss ich mir klar machen, dass eine neue Zeit angebrochen ist, dass ich jetzt erwachsen bin, dass all meine alten Gefühle da sein dürfen, mich aber nicht mehr bestimmen müssen. Vor allem aber, dass ich sie lenken kann und selbst dafür Verantwortung übernehmen kann, was ich damit mache.

Es ist ein Ausprobieren, ein ständiges Üben und Wiederholen. So lange und immer wieder, bis es sitzt.


Springen, fallen, aufstehen, weitermachen. Ich werde mich nicht mehr abschrecken lassen. Ich möchte dass sich meine Gefühle für diese Menschen und diesen Ort relativieren und anpassen an mein neues Ich, meine neue Realität, meine neue innere Größe. Und ich glaube daran, dass es genauso funktioniert wie beim Essen. Rein ins kalte Wasser. Immer wieder. Solange bis man sich an die Temperatur gewöhnt hat.


Solange bis man in all den Gefühlen schwimmen gelernt hat und nicht mehr darin ertrinkt.



 
 
 

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