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Beitrag: Blog2 Post

Wer bin ich wenn ich nicht mehr "FRAU ED" bin?

  • Autorenbild: Leo
    Leo
  • 5. März 2023
  • 4 Min. Lesezeit
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„Ich will ein Meer zwischen mir und meiner Vergangenheit

Hab gedacht ich hätte sie abgehängt, doch sie holt mich immer wieder ein.“ -Annemaykantereit-.


Es ist Sonntag. Laut meiner fünfhundert Whatsapp-Nachrichteneingänge ist gerade jeder meiner Freunde irgendwo mit irgendwem unterwegs. Nur nicht mit mir.

Ich bin allein und habe Liebeskummer.


ED ist weg. Seit drei Tagen schon.


Sein alter Mief liegt noch in der Luft und lässt mich schwer atmen.

So lange habe ich auf diesen Moment gewartet, endlich die Kraft aufzubringen, ihn rauszuwerfen. Ohne ihm gleich wieder nachzulaufen.


Nun ist es soweit. Alles still. So wie ich es wollte.


Kein Kampf mehr.

Keine Kontrolle mehr.

Kein Plan. Kein Zwang. Keine Demütigung.

Kein „DU MUSST ABER“ und „DU SOLLST JETZT“.


Doch statt zu jubeln, heule ich in meine Sofakissen.

Ich sitze allein auf meiner Couch. Eigentlich sitze ich nicht, sondern ich liege. In einem Meer aus zu harten Kissen und mit vollgekleckerter Jogginghose. Sitzen geht nicht. Meine Beine tun weh. Der Arzt sagt ich hätte ein Knochenödem wegen Überlastung.

Wer bin ich ohne ED?

Naja, ich habe doch so viele Interessen und Dinge die ich mag. Oder?


Wenn ich ehrlich bin, eigentlich nicht. Ich liege am liebsten rum, höre Musik, schwelge in meinen Gedanken und schreibe ein paar davon auf.

Mehr geht gerade nicht. Und mehr will ich auch gar nicht mehr.

Will einfach nur hier liegen, schlafen, essen, heulen und ihn vermissen und verfluchen und wieder vermissen und verfluchen.


Ich habe keine Lust zu laufen, Sport zu machen, shoppen zu gehen oder irgendwem zu sehen, denn ich stinke nach Sofa, nach Altsein und Langeweile.


Meine Haare sind ungewaschen und selbst die teure Hyaloron-Hautcreme aus dem DM rettet mein zerknautschtes Gesicht heute nicht mehr vor der Vierfaltigkeit.


Ich esse so viel, dass selbst meine schlabberige Jogginghose sich anfühlt wie eine zu enge Leggins.

Das letzte Mal als ich mich so beschissen gefühlt habe, war in der Pubertät. Mit echtem Liebeskummer. Glaube ich zumindest. Eigentlich weiß ich ja gar nicht wirklich was Liebe überhaupt ist.


Alles worfür ich in den letzten Jahren gelebt und gekämpft habe war zuerst ED und danach die Befreiung von ED. Ich habe vorher nie darüber nachgedacht, wer oder was übrig bleibt, wenn dieser Krieg irgendwann vorbei ist – weil ich immer davon ausgegangen bin, dass er mein Leben lang dauern wird.


Was mache ich mit meinem ganzen Tag, mit all meiner Zeit, mit den vielen freien Stunden und Gedanken, jetzt wo sich nicht mehr die ganze Zeit alles um ED drehen muss?

Wie wahnsinnig suche ich einen Halt. Mein Geist klammert sich an noch mehr Podcasts, noch mehr Videos, noch mehr Menschen die mir sagen dass alles gut wird wenn ich nur weiter mache.


Aber was soll ich denn weiter machen?

Ich mach doch schon alles!

Weil alles was ich machen kann ist gerade – nichts.


Nichts machen ist das Schwerste was ich jemals tun musste.


Selbst in meinen schlimmsten Zeiten, nach dem "Getränkeunfall" auf der Intensivstation, oder in der Psychiatrie, habe ich, kaum dass ich mich wieder einigermaßen bewegen und reagieren konnte, per Handy meinen Umzug, neue Bewerbungsgespräche und allen möglichen Behördenscheiss organisiert, von dem ich dachte, dass ich ihn organisieren muss, sonst sterbe ich.


Ich lag dort mit tausend Schläuchen am Körper, nachdem ich ein paar Tage vorher mal wieder fast gestorben war, und habe ein Leben geordnet, was ich gar nicht mehr haben wollte.


Ich habs einfach nicht geschnallt.


Wie ein Hamster der aus seinem Rad gefallen ist und sich mit gebrochenen Beinen und gebrochenem Herzen in letzten Kräften sein eigenes Rad wieder aufstellt in einem goldenen Käfig.


Nun, jetzt und hier, ist er offen, mein Käfig.

Und ich hocke hier in meiner Ecke, zitternd und heulend und ängstlich.

Ohne Fell. Nackt. Und traue mich nicht raus.


Weil ich nicht weiß, was dort ist. Weil ich mich schutzlos fühle ohne mein dickes Fell.

Und weil ich ein Leben lang nichts anderes kannte als diesen verdammten Käfig.


Man sagt, Tiere aus Gefangenschaft haben keine Überlebenschancen in der freien Wildbahn.

___

Die Menschen die Angst davor haben niemand zu sein ohne die Sucht habe ich lange belächelt und bemitleidet. Nun wird mir klar, wieviel Leere da wirklich ist, wenn ich ED nicht mehr habe.


Wieviel Raum er in meinem Leben eingenommen hat, das habe ich lange erfolgreich verdrängt.


Ich dachte selbst auf dem Weg meiner aktiven Heilreise noch, es wäre normal jeden Tag zwei, drei Stunden zu laufen und eben total gesund zu essen.

Am besten nebenbei noch möglichst viele Selbstoptimierungs- Podcast hören wie man sich noch schneller und besser heilen kann. Mit noch mehr Leuten telefonieren, um all meine Ängste und Sorgen zu teilen und irgendwo abzuladen. Noch mehr Pläne immer mehr Gedanken und Ideen, noch klüger, noch effektiver sein. Besser eben. Besser wie immer bei allem, nur eben jetzt in die andere Richtung. Nur um am Ende des Tages völlig kaputt und fertig aber zufrieden weil ich wieder so viel von meinem Plan umgesetzt habe ins Bett zu fallen und zu hoffen, dass der nächste Tag irgendwie wieder klappt und nichts schief geht.


Das alles war keine wahre Freiheit. Es war nur ein größerer Käfig.


Meine Sucht ist nicht Alkohol. Meine Sucht ist nicht Essen. Meine SUCHT ist

MEHR.

BESSER.

WOANDERS HIN.

UND DAS SCHNELL...

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