Vom Hassen und Verlassen
- Leo

- 22. Feb. 2023
- 4 Min. Lesezeit

Ich hasse Menschen, habe ich früher oft gedacht. Nein.
Ich hasse Menschen nicht. Ich hasse nur das Gefühl ausgegrenzt, abgelehnt, unverstanden und nicht wertgeschätzt zu sein.
Diese Gefühle hatte ich sehr oft, sobald ich mich mit anderen Menschen verband.
Dies führte zu der Entscheidung, alles besser auf eigene Faust zu tun.
Bis ich mir eingestehen musste, dass ich mit dem Kopf durch die Wand nicht weiter komme.
Ich bin ein soziales Wesen. Ich brauche Hilfe. Ich brauche andere Menschen.
Kein Eingeständnis ist mir bisher so schwer gefallen wie dieses. Und keine Erkenntnis hat mir bisher so viel Erleichterung und Frieden gebracht.
Annehmen können. Vertrauen können. Zuhören können. Meine Freiheit endet dort, wo die der anderen anfängt. Mein Frieden beginnt, wenn ich den der anderen toleriere.
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Meine Sucht war immer eine Suche nach Halt, Kraft, Anerkennung, Hoffnung und Liebe, die ich in meinen Eltern nicht finden konnte.
Deshalb suchte ich sie immer in anderen Menschen.
Und weil ich sie dort auch nicht fand, flüchtete ich mich immer wieder in meine Süchte.
Meine Stoffe und Verhaltensweisen zum Kompensieren konnten mich nie enttäuschen. Sie waren immer da, wenn ich mich wieder mal von Menschen enttäuscht, überfordert und verlassen fühlte.
Während meiner Sucht war ich überzeugt davon, niemand anderen zu brauchen, um ein gutes Leben führen zu können. Ich wollte alles allein schaffen und von niemandem abhängig sein.
Ich glaubte nur an mich und meine eigenen Überzeugungen.
Als ich wieder und wieder damit gescheitert bin, sah ich mich gezwungen, meine schlimmste und am tiefsten liegende Sucht aufzugeben. Das ist nicht Alkohol, Drogen, Essen oder Arbeit.
Es ist die Selbstsucht. Selbstsucht im Sinne von meiner tiefsten innere Überzeugung, alles besser zu wissen, zu können und zu verstehen als alle anderen. Mein ständiges inneres Bewerten anderer als unzulänglich, minderwertig, unter mir stehend, egoistisch oder anderweitig ungenügend.
Ich sah früher oder später immer all die versteckten Mängel in anderen, die ich in mir selbst versteckt fühlte.
Deshalb konnte auch nie echte tiefe und vor allem langfristige Verbindung entstehen zwischen mir und anderen Menschen. Irgendwas fand ich immer nach einiger Zeit, was mir nicht gefiel und was ich verurteilen konnte. Um einen Grund zu haben, mich nicht länger mit ihnen abzugeben.
In Wahrheit rechtfertigte ich so oft das Gefühl, sie würden sich nicht ausreichend mit mir abgeben und sich nicht genug um mich sorgen, mir nicht genug Aufmerksamkeit schenken.
Die die das taten, hatte ich lieb. Sobald es mir zuviel wurde zog ich mich aber zurück, fühlte mich bedrängt. Wenn sie sich ihrerseits zurück zogen, fühlte ich mich wiederum verlassen. Ein einziges Drama. Bis mir immer wieder alles zuviel wurde, ich die Beruhigung und den Ausstieg aus dem Drama erneut in meiner Sucht fand und mir selbst bestätigte, dass alles andere keinen Sinn hat und ich mir eben selbst überlassen bleiben muss.
Ich war mit mir selbst nicht verbunden. Ich war mit mir selbst nicht im Frieden.
An der Oberfläche war ich immer mit unzähligen Menschen zusammen. Uns verband ein gemeinsames Hobbie, die Schule, die Arbeit, irgendein Verein oder ein Sport.
Ich war regelrecht süchtig nach mehr und mehr Menschen, Freunden, Beziehungen.
Als echte Gemeinschaft habe ich das aber nie erlebt und empfunden. Irgendwie war ich immer außen vor. Ein Alien zwischen all den anderen die scheinbar so zusammen gewachsen waren – nur ich hing in der Luft und schaute zu wie durch eine unsichtbare Glaskugel.
Heute ist mir bewußt. Ich fühl mich mit Menschen am stärksten verbunden, wenn ich etwas mit ihnen teilen, was ich sonst mit niemandem teilen.
Und zwar etwas, was ich ungern von mir zeige.
Erst als ich lernte, mich mit all meinen Seiten zu zeigen, auch mit all meinen gefühlten Schwächen, Makeln und Schattenseiten, konnten wahre tiefe und vertrauensvolle Beziehungen wachsen.
Oft habe ich anderen die Schuld daran gegeben, dass ich mich nirgends integriert gefühlt habe.
Nun weiß ich, es lag an mir. Ich war nie vorher bereit, mich wirklich zu öffen und all das nach Außen zu tragen, was ich vor mir selbst und anderen gern verstecken und verheimlichen wollte.
All meine gefühlt „bösen und schlechten“ Eigenschaften. Zu groß war die Angst diese Beziehungen dadurch wieder aufs Spiel zu setzen.
Die tiefsten und innigsten Beziehungen habe ich heute zu den Menschen, mit denen ich meine dunkelsten Gedanken, Gefühle und Geheimnisse teile. Ich fühle mich ihnen so verbunden, dass ich meine Hand für sie ins Feuer legen würde und ihnen bedingungslos vertrauen kann.
Wenn ich die Verbindung zu mir selbst verliere, kennen mich oft besser als ich mich selbst.
Sie führen mich wenn ich mich nicht führen kann. Und ich kann ihnen geben und zuhören, ohne mich zu verausgaben oder abzuschalten. Wir sind eins, auch ohne viele Erklärungen. Ich muss keine Angst mehr haben diese Menschen zu verlieren, nur weil ich mal meine Meinung sage, mich eine Zeit lang nicht melde, eine Bitte oder ein Angebot ausschlage oder mich ihnen mitteile, wenn es mir mal nicht gut geht. Ich muss keine Befürchtung mehr haben, sie lehnen ich deswegen ab oder wenden sich ab. Ich brauche auch nicht mehr eifersüchtig sein, wenn diese Menschen außer mir noch andere Menschen in ihr Leben lassen und enge Beziehungen mit denen pflegen, weil ich heute weiß, dass ihre Beziehung mit mir dadurch nicht weniger wichtig wird.
Oft fällt mir das jedoch immer noch schwer zu akzeptieren.
Das ist vermutlich das Einzelkind-Syndrom. Oder ein Phänomen, das auftritt, wenn man sich der Zuwendung der eigenen Eltern lange nicht sicher sein konnte.
Es ist ein Prozess, der wohl nie enden wird. Ein tägliches Ringen um Balance zwischen Geben und Nehmen, Verbindung und Abgrenzung, Nähe und Distanz. Ein Prozess der jeden Tag wieder Energie kostet, aber auch unendlich viel gibt.
Das größte Geschenk daraus ist die Freiheit die ich gewinne, weil ich dadurch meine Süchte ablegen kann und lerne zu vertrauen.
In das große Ganze.
In das WIR.




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