Endlich wieder Mensch - Zeit für Neues
- Leo

- 27. Jan. 2023
- 4 Min. Lesezeit
Ich habe heute eine große Tüte alter Klamotten von mir gepackt und in die Kleiderspende gebracht. Da bin ich raus gewachsen. Ich möchte alte Schalen ablegen.
Es ist höchste Zeit für Neues. In angemesserner Größe. - Innen und außen...
Wegen meiner MPU musste ich in den letzten Wochen all den Scheiß, den ich in der Ohnmacht meiner Alkoholabhängigkeit während der letzten Jahren verzapft habe, nochmal ganz bewußt an mir vorbei ziehen lassen.
Aufarbeitung der Suchtproblematik - das muss der Gutachter erkennen, um mich wieder für fahrtauglich zu erachten. Ich selbst habe diesen Prozess genutzt, um zu reflektieren, ob ich mich selbst wieder für lebenstauglich halte.
Was mir dabei alles durchs Hirn und Herz geschossen ist, tat verdammt weh.
All die Demütigungen, all die krassen Abstürze und grotesken Geschichten, die im Lauf der Zeit für mich immer mehr zum "Normalzustand" wurden - erst jetzt wird mir richtig klar, was all das für die Menschen bedeutet hat, die mir dabei die ganze Zeit über nahe waren.
Allen voran meiner Familie.
Das Beschissene an einer Sucht ist: dir selbst geht es nicht wirklich schlecht. Zumindest nicht solange das "Betäubungsmittel" noch einigermaßen wirkt. Du funktionierst in deiner eigenen kranken Blase und bist ausreichend damit beschäftigt zu überleben.
Ja, ich oft dabei gelitten wie ein Hund.
Aber wie sehr meine Familie gelitten hat, war mir bis zuletzt nie richtig bewußt.
All die Ängste und Sorgen, welche die Menschen um mich herum ausgestanden haben. Die permanente Alarmbereitschaft, ständig der Hintergedanke: was kommt als nächstes, wann kommt wieder ein Anruf, und was erwartet uns dann.
Ganz abgesehen von der Tatsache, dass ich als einzige Familienangehörige nicht verfügbar war. Nicht ansprechbar und nicht so da, wie ein erwachsener Enkel, eine erwachsene Tochter da sein sollte für ihre Eltern und Großeltern.
Es ist pures Feuer für die Seele der Angehörigen- jeden Tag dieses Chaos, diese Selbstzerstörung miterleben, zuschauen wie ein einst geliebter Mensch sich selbst mehr und mehr zugrunde richtet und vergeht,
Wie er Schritt für Schritt für sich selbst und sein Umfeld zum "Haßobjekt" und "Störfaktor" wird. Ein einziges endloses Drama.
Und gerade weil ich dieses Drama jahrelang von der anderen Seite aus miterlebt habe, kann ich so schwer begreifen, dass ich selbst diese Rolle übernommen habe. Ich wußte doch genau wie sich das anfühlt. Warum habe ich so lange nicht begriffen, was ich damit mir und anderen antue?
Weil ich jahrelang immer für alle da war. Besser gesagt geglaubt habe es sein zu müssen. Bis es irgendwann zuviel wurde und ich den Notausschalter brauchte.
Ich bin dann mal weg. Im Zauberwald.
Macht euren Dreck alleine. Ich kann nicht mehr.
Ich war außerdem überzeugt davon, grundsätzlich nur mir selbst zu schaden.
Schließlich war es mein Leben, mein Körper, meine Verantwortung.
Die Auswirkungen auf mein Umfeld habe ich schlichtweg ignoriert, heruntergespielt. Vielleicht auch ein Stück weit als gerecht erachtet. Schließlich hatten diese Menschen gefühlt auch mir weh getan. Immer wieder, ohne es zu merken, ohne es bewußt zu tun. Genauso wenig bewußt wie ich es später ihnen antat.
Keiner von uns hatte das Ziel, dem anderen weh zu tun und doch taten wir es reihum in allen Formen und Varianten immer wieder.
Aber Feuer mit Feuer bekämpfen hat noch nie funktioniert.
Nun sitze ich heute hier - im kachelofengewärmten Wohnzimmer meiner Großeltern.
Unser größtes Problem heute : Schon wieder ein Waschbär im Garten, der das ganze Vogelfutter leer gefressen hat. Opa kennt da keine Gnade. Das Vieh liegt inzwischen neben den anderen 23 Waschbären im Waschbärgrab am Kompost und Oma ist happy, dass endlich wieder die Blaumeisen am Futterhaus rumzwitschern.
Ich denke: Zum Glück war ich kein Waschbär, sonst würde ich schon lange auch in diesem Loch liegen, nach dem ganzen Mist, den ich verzapft hab. Opa fragt mich um Rat - wegen seiner Vorsorgevollmacht. Und wie man sowas macht mit einer Patientenverfügung und ob man zum Notar muss mit einem Testament.
Er hat noch nie über sowas mit mir gesprochen. Kein Wunder. Ich war ein Wrack, ein unzuverlässiger, egoistischer Assi - ich hätte mir keinen Blumentopf anvertraut.
Und heute kommt er mit diesen Zetteln zu mir und ich weiß nicht, ob ich heulen soll vor Glück oder vor Schmerz.
Weil mir bewußt wird, dass er in einem Monat 86 Jahre alt wird und ich so viele wertvolle gemeinsame Jahre verschenkt und verschissen habe. Mit innerem Groll, Vorwürfen und dem Streben nach Erfolg und Anerkennung im Außen von anderen Menschen, die mir rückwirkend gesehen heute den Buckel runter rutschen könnten. Ich frage mich wo ich all die Jahre war.
Ich frage mich, warum ich die ganze Zeit über dachte, finanzielle Sicherheit, ein gewisser Status, Anerkennung im Job und was weiß ich noch wären Priorität im Leben. Oder wie ich denken konnte: nach mir die Sinnflut - wenn ich weg bin, kümmert es keinen Schwanz- ich bin eh nur Ballast und die sollen dann sehen, was sie davon haben...
Was für ein verdammter Bullshit - was für eine verdammte Egonummer.
Ich habe keine Ahnung wie man sowas wieder gut machen kann. Vermutlich gar nicht.
Man kann vergeben. Vergebung ist nicht aktiv. Sie passiert, wenn wir uns entwickeln.
Wenn Vertrauen wieder wächst und sich alte Wunden schließen.
Ich glaube heute hat sich etwas geschlossen. Eine Wunde, eine Tür zu einem Stück Vergangenheit, eine Tür zu einem Menschen, der ich nie wieder sein will.
Den Anfang kann ich nicht mehr ändern. Aber das Ende. Und geben, was ich hier und heute noch geben kann.
Vergeben. Da sein.
Deshalb habe ich jetzt für meine Großeltern ein wasserdichtes Vorsorgekonzept aufgesetzt.
Denn ich bin kein Assi-Wrack, sondern Notarfachangestellte und Immobilienfachwirtin.
Und Tochter und Enkeltochter.
Und endlich wieder Mensch.






Kommentare