DICKE (F)EIERTAGE - Mut zur Wahrheit
- Leo

- 9. Apr. 2023
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 14. Apr. 2023

Für jeden „normalen“ Menschen sind Feiertage Freudentage.
Für mich als Süchtige waren Feiertage immer der absolute Supergau.
Man muss nicht arbeiten, trifft seine Liebsten, ruht und speist fürstlich im Kreise der Familie,
Vielleicht unternimmt man auch gemeinsam etwas, geht spazieren oder fährt in den Urlaub.
Das was für viele andere Menschen Grund zum Jubeln und Entspannen ist,
war für mich eine mehrtägige Horrorshow, ein Überlebenskampf, ein permanentes Ringen um innere Sicherheit und um meine Freiheit von meinen „Suchtmitteln“.
Anfangs war es für mich unvorstellbar, mehrere Tage lang mit meiner Familie zu verbringen, ohne zu trinken, zu fressen, zu kotzen, zu hungern, und dann noch tagelang keine große Bewegung. Schrecklich! Unaushaltbar!
Entsprechend unaushaltbar war meine Laune. In mir herrschte Hochdruck, Anspannung pur.
Alles was ich sagte und tat war nur der hilflose Versuch, eine entspannte Maske aufrecht zu erhalten, um die Familie nicht noch mehr zu beunruhigen als sie es eh schon war.
Ich kann mich an Zeiten erinnern, da konnte ich Familienbesuche nur angetrunken ertragen, zumindest aber spätestens beim „Feiern“ brauchte ich Stoff, um diese Maskerade und dieses Gewusel zu ertragen. Oft musste es am Abend oder am Tag danach die doppelte oder dreifache Menge sein, um mich von den „Strapazen“ wieder zu erholen. Dasselbe Spiel beim Essen. Entweder fraß ich heimlich sämtliche Süssigkeiten auf und stopfte widerwillig das Festmittagessen in mich rein – nur um mich später wieder heimlich auszukotzen oder mich stundenlang für einen „Verdauungsspaziergang“ zu verabschieden. Außerdem hatte ich tagelang vorher oft schon „vorgearbeitet“, das heißt gehungert, damit ich dann am Feiertag für meine Familie „Schauessen“ konnte und sie vermeintlich beruhigt waren. Meistens bin ich auch noch früh um fünf aufgestanden damit ich vor dem Fress- und Sitzgelage noch meine Kilometer ablaufen konnte. Einfach nur irre – und einfach irre anstrengend!
Wenn möglich vermied ich Feiertage in Familie, indem ich mich mit Freunden verabredete, die meine „Macken“ duldeten oder in dem ich einfach Schichtarbeiten ging oder mir sonst welche Ausreden ausdachte um nicht mit ihnen zusammen sein zu müssen.
Ich war nicht fähig zu sagen, dass ich Familienfeiern in dieser Form schlichtweg belastend und für mich nicht stimmig empfinde.
Den Arsch in der Hose hatte ich damals nicht, einfach offen anzusprechen, dass ich mir ein kurzes Treffen vorstellen kann und einen gemeinsamen Kaffee, aber dass ich gern den Rest der Tage einfach meine Ruhe haben möchte und spontan je nach Laune entscheiden was ich unternehmen möchte.
Das war der Wunsch hinter der Sucht. Und die Sucht schaffte es mit ihren Zwängen und ihrem Egoismus, mir das zu verschaffen, was ich mir „nüchtern“ nicht einzufordern traute. Statt zu sagen, ich möchte Freiraum und Ruhe, soff ich mich regelmäßig so zu, dass ich das zwangsläufig bekam – indem ich die Feiertage entweder im Krankenhaus oder irgendwo betrunken auf der Couch von fremden Leuten verbrachte. Innerlich war ich zerrissen – froh um meine „Ruhe“ und das Umgehen der „Zwangsgemeinschaft“ und doch voller Scham und Schuld.
Mit dem Bewegungszwang und dem Essen dasselbe. Ich ging stundenlang spazieren, hungerte für Festessen vor oder erbrach sie – weil ich es nicht übers Herz brachte offen „NEIN“ zu sagen. Nein, ich komme nicht zum Essen, nein ich bleibe nicht alle drei Tage, nein ich gehe nicht mit die bescheuerten Osterreiter angucken weil ich Pferde und Menschenmassen und lange Stehen hasse.
Ich konnte es nicht sagen, also sprach die Sucht und ließ mich verschwinden – in der Toilette, im Wald zum joggen, im Krankenhaus, im „Urlaub“ - hauptsache weg vor der Verantwortung, Verantwortung für mich zu übernehmen und mich abgrenzen zu müssen.
Lange habe ich meine Süchte verflucht und bekämpft. Bis ich begriff, dass sie mir etwas sagen wollen.
Sie setzen die Grenzen, die ich nicht setzen kann. Sie sind der ins Extrem getriebene Selbstschutz, den ich mir nicht zugestehen kann. Sie sind mein Mittel der Wahl, um für mich zu sorgen und mir Halt in Chaos und Fremdgesteuertheit zu geben.
Was heute anders ist? Ich brauche keine Suchtmittel mehr, um meine eigenen Grenzen zu setzen und für mich zu sorgen.
Wenn ich etwas brauche, spreche ich es an und nehme es mir, soweit ich damit nicht die Grenzen der anderen verletze.
Ich gehe Kompromisse ein, doch nur insoweit wie ich damit meine eigene „Nüchternheit“ nicht aufs Spiel setze.
Sobald ich merke, dass ich in irgendeiner Form Suchtdruck bekomme – sei es der Drang zu Trinken, zu Fressen, zu Hungern, zu Laufen, mich zu Überessen oder sonsteinen selbstschädigenden Scheiß zu bauen – weiß ich, irgendwas stimmt nicht. Dann fühle ich in mich hinein, was es ist und was ich brauche.
Ich kann sagen, was mit mir los ist. Ich kann um Rat, Hilfe und Verständnis bitten. Ich kann mich notfalls auch aus der Situation zurück ziehen. Ich kann meine Gedanken aufschreiben um sie selbst besser zu erkennen. Ich kann etwas essen, einfach nur schlafen, singen, lesen oder mir anderweitig eine gesunde Auszeit nehmen. Ich muss nicht mehr wie angestochen meinen Körper verändern, um meine Situation zu verändern. Ich muss auch nicht mehr andere dafür verurteilen, dass sie nicht meine Gedanken lesen. Oder mich so bescheuert verhalten und einen Streit vom Zaun brechen, damit sie mich freiwillig rausschmeißen. Ich muss auch nicht mehr auf alle anderen wütend sein und sie verändern wollen, damit es mir selbst besser geht.
Das war das größte Problem bei allem. Jeder war für mein schlechtes Befinden verantwortlich außer mir selbst.
Und wenn alles gut war, konnte ich es auch nicht ertragen und musste irgendein Drama inszenieren oder was Schlechtes finden, um mir selbst einen Grund zu geben, diese Zusammenkunft doof zu finden. Weil ich mir nicht eingestehen konnte, dass ich nur zu feige war zu sagen, dass ich eigentlich schlicht und einfach keine Lust drauf habe und lieber zuhause eine Runde schlafen oder lesen würde.
Seit ich Verantwortung für mein eigenes Wohlergehen übernommen habe, kann ich viel gelassener sein und auch das Verhalten, die Worte und die Entscheidungen meiner Mitmenschen besser tolerieren. Auch wenn sie mir manchmal nicht in den Kram passen.
Leben und leben lassen. Nicht mehr „Wie du mir so ich dir!“
Heute werde ich mich zwei Stunden mit meiner Familie zum Kaffeetrinken treffen. Den Rest des Tages verbringe ich auf meiner Couch. Nüchtern. Ohne Alkohol. Mit ganz normalem Essen auf das ich Lust habe zu der Zeit wenn ich Hunger bekomme und soviel ich gerade brauche ohne irgendwelche Blicke und Kommentare. Weil es gerade das ist was mir gut tut.
Eigentlich weiß ich noch gar nicht, was ich heute alles noch so machen werde.
Und das find ich toll!
Vielleicht finde ich diese Familientreffen mit der neuen Ehrlichkeit sogar ganz angenehm. Vielleicht kann ich weil ich mich nicht mehr ständig in meine Suchtmuster flüchten muss auch mal ganz entspannt ein paar Stunden auf dem Sofa meiner Oma sitzen oder auf der Couch bei Papa liegen und lesen und essen ohne schlechtes Gewissen. Und ohne dass sich meine Sucht dabei beobachtet und überwacht fühlt.
Früher gab es für die gesamten Feiertage einen genauen Zeitplan.
Jede Stunde war durch getaktet.
Die Sucht wollte möglichst unbeschadet und stressfrei durch den „Schautag“ kommen.
Bis zum Abend, wenn dann endlich die „Erlösung“ in Form von Essanfällen oder Betrinken als Entspannung als Belohnung für den ganzen Stress warteten.
Heute muss ich mich nicht mehr am Abend für den anstrengenden Maskeradentag belohnen.
Denn ich lebe meinen Tag nicht mehr als einen Schaukampf, von dem ich mich am Abend erholen muss.
Ich darf endlich ICH sein. Nicht nur heimlich zuhause – sondern überall wo ich bin. Sogar bei meiner Familie. Ich muss nichts mehr verstecken, besonders meine Sucht nicht mehr. Und dafür bin ich unglaublich dankbar.




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