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Beitrag: Blog2 Post

Der Traum vom Aussteigen

  • Autorenbild: Leo
    Leo
  • 16. Apr. 2023
  • 6 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 21. Mai 2023


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Ich hatte einen Traum.

Den Traum von Freiheit und Abenteuer.


Mal einige Monate aussteigen aus dem Alltagstrott, so wie es viele tun, die sich nach Veränderung und neuen Erkenntnissen sehnen. Meine Vision war es, in einem Kleinbus oder Camper durch Europa zu fahren, mir die Welt außerhalb meines täglichen Tellerrandes anzuschauen, vielleicht irgendwo für ein bischen Kostegeld zu arbeiten und so ein ganz freies und alternatives Leben kennen zu lernen.


Raus aus der Normalität, weg vom Trubel der Stadt, weg von Konsum und Stress, weg von Medien, von Werbeglanz und dem immer verfügbar sein müssen.


Vor einigen Jahren hatte ich aus einem Fluchtimpuls heraus schon mal Sack und Pack ergriffen und war mit einem fragwürdigen Begleiter für einige Wochen auf einen Bio-Gäste-Bauernhof nach Süddeutschland geflüchtet. Es sollte offiziell ein Ausbruch aus der Enge der Leistungsgesellschaft sein.

Die Wahrheit aber war: Ich selbst hatte mir damals meine eigenen Mauern gebaut.

Denn ich war süchtig.

Abhängig von Alkohol, vom Fressen und Kotzen und mein Begleiter auch von diversem anderen Drogenkram und Zigaretten. Genau deshalb waren wir an einem Punkt im Leben gekommen, in dem wir uns so unfrei fühlten, dass wir unbedingt weglaufen wollten, um endlich unsere Wahrheit und Freiheit zu finden.

Die Sucht hatte mich der Fähigkeit beraubt klar und frei zu denken und zu entscheiden.

Alles im Außen war mir scheinbar zu eng geworden. Dabei bemerkte ich nicht, dass ich mir den wahren Käfig selbst geschmiedet hatte. Mein ständiger Konsum von Substanzen die mein Hirn vernebelten und meine mangelnde Energie in Form ausreichend geistiger Klarheit und finanzieller Sicherheit, die mir durch mein Verhalten entstanden war, hatten mir meine wahre Freiheit geraubt – nicht die Leistungsgesellschaft!


Außerdem die Unfähigkeit, mich selbst abzugrenzen von den Forderungen, Ansprüchen und dem Druck meiner Familie, meiner Arbeitgeber und meiner eigenen Ansprüche. Denn im Grunde fühlte ich, dass sie Recht hatten.

Ich sollte endlich Verantwortung übernehmen, aber ich konnte und wollte es nicht.

Das alles sperrte mich in einen unsichtbaren Käfig und löste diesen unstillbaren Drang nach Freiheit und Wegwollen aus.


Ich machte meine Umstände dafür verantwortlich. Meine Mitmenschen. Meine Arbeitgeber. Die Menschen die mir helfen wollten, was ich jedoch als Bedrohung und Belastung empfand. Die ganze verkappte Gesellschaft war Schuld für mein Leid – nur ich nicht.

Ich war eben anders und das wollte ich so und das war gut so! Stattdessen verbündete ich mich mit Leuten, die einen ähnlich konfusen Lebensentwurf hatten wie ich. Ich flüchtete hin zu Menschen, die sich auch anders fühlten, aber ebenso an Grenzen stießen, die sie sich selbst erschaffen hatten und aus denen sie nur eine Flucht fanden:

Das schnelle Vergessen im Konsum, das Zusammensein bei Lagerfeuer, Rauch, Bier und dem Schmieden großen Alternativplänen für ihre Zukunft, die niemals würden aufgehen, weil sie am nächsten Tag mit schwerem Kopf wieder im selben Käfig aufwachen würden, in dem sie eingeschlafen waren.


Menschen, die sich gegenseitig dafür verstanden, wie schlimm und böse die Gesellschaft ist, wie hart das Leben und wie traumhaft der Ausbruch aus diesem Dilemma doch wäre. Darauf erstmal Prost! Und noch nen Joint - dann ist alles gleich viel leichter. Zusammen ist man weniger gefickt von sich selbst.


Damals war ich noch an einem Punkt, an dem ich diese Gesellschaft genoss. Ich war nicht mehr der Außenseiter, der komische Vogel, der Looser, der nichts auf die Reihe kriegte. Ich war einer von ihnen, akzeptiert, integriert, verstanden.

Prost!

Hast du noch Papers?


Heute sehe ich das alles von außen, wie ein komischer Vogel, der nicht mehr dazu gehören möchte zu diesen Schwarm. Ich sehe all das Potential dieser Menschen, ihre Fähigkeiten und tollen Ideen. Ich sehe ihren Wunsch nach Freiheit, Verbindung und Zugehörigkeit.

Gleichzeitig sehe ich all die unsichtbaren Steine, die sie sich selbst in den Weg spülen und rauchen. In der richtigen Umgebung ist jeder bunte Vogel nur einer unter vielen und fällt gar nicht auf. Das ist bequem, hat aber für mich nichts von Freiheit an sich.

Ich sehe mich vor vielen Jahren und es fühlt sich falsch an, auch wenn nach außen erstmal alles easy und happy wirkt.

Ich fühle mich ein bischen aussätzig. Ein bischen langweilig und wie ein Spießer.

Weil mir das alles zu anders ist. Zu durcheinander. Zu unkoordiniert. Zu ungeplant. Zu unüberlegt.


Bin ich ein schlechter Mensch, weil ich gewinnorientiert denke? Bin ich langweilig, weil ich keine Pflanzen rauche und Pläne und Struktur mag?

Sind alle Menschen mit Geld schlechte Menschen?


Die Alternativen - sie wollen keine Profitgeier sein, denn sie sind schließlich Aussteiger und echte Aussteiger machen keinen auf Kommerz. Sie buckeln sich lieber 50 Jahre für plus minus Null krum und halten sich mit Bier und Joints über Wasser. Ist das wirklich der bessere Weg?


Aussteigen. Weg vom Konsum. Weg vom Stress.

Auf so einem Biohof - Fehlanzeige! Konsum in reinster Form, kaum einer hier ist Nachmittag um fünf noch bei klarem Verstand – außer die Hühner vielleicht. Gäste fragen ständig was, Tiere wollen gefüttert werden. Die Arbeit nimmt kein Ende. Mit Romantik und Aussteigen hat das für mich nichts zutun.


Die Gäste kommen vermutlich nicht um Abstand zu bekommen vom Alltag, sondern um in Ruhe und billig zu konsumieren und dabei nicht allein zu sein oder komisch angeschaut zu werden.


Doch was geht es mich an. Es muss nicht mein Leben sein und ich muss es weder gut finden noch verurteilen.

Ich bin nur sehr froh, als ich am Abend in meiner sauberen, frisch gestaubsaugten und konsumfreien Wohnung die Heizung aufdrehe und mich in mein frisch bezogenes Bett kuscheln kann. Mit fließend Warmwasser, eigenem Kühlschrank voll mit ungesundem Nicht-Bio-Essen und genug Strom für meinen Laptop.

Warum bin ich auf diese beknackte Idee gekommen aussteigen und alternativ sein zu wollen?


Ich muss nicht aus meinem Leben aussteigen. Ich bin doch gerade erst richtig angekommen. Ich hatte genug Abenteuer – so viel Abenteuer wie ich hatte sicher kaum eine 40 -Jährige Ossifrau. Mein Leben stand in den letzten 25 Jahren kaum mal einen einzigen Tag still – abgesehen von den 100 Zwangspausen in irgendwelchen Kliniken, und selbst da ging der Kopfzirkus weiter.


Ich schätze, das war alternativ genug.


Ich hab alles mitgenommen – von der geschlossenen Psychiatrie bis zur Millionärsvilla, von der weltreisenden Dreifachmutter bis zur völlig abgefuckten Obdachlosen.

Meine ganze Energie habe ich in den letzten Monaten darin investiert, endlich mal bei mir anzukommen.


Endlich Ruhe und Frieden und eine feste Basis zu finden.


Freiheit in mir zu erlange.

Wahre Freiheit – keine Flucht mehr.


Ich bin frei von jeglichem Konsum, außer ab und zu ein paar sinnlosen Bestellungen bei Amazon, aber die kann ich notfalls umtauschen.


Ich bin frei von Angst und Zorn gegenüber meiner Familie.


Ich bin frei in meiner Entscheidung ob und wo ich arbeiten möchte.


Ich bin frei in meiner Zeiteinteilung.

Frei in meinem Denken und frei in meiner Entscheidung wie ich den Rest meines Lebens verbringen möchte.


Vor allem aber bin ich endlich frei vom Zwang etwas tun zu müssen.


Ich muss nicht mehr trinken, fressen, kotzen, irgendwas anderes konsumieren, irgendwelche bestimmten Verhaltensmuster ausüben, um mich gut zu fühlen.


Ich muss keinem mehr was beweisen oder besonders liebenswürdig und hilfsbereit sein, um mein schlechtes Gewissen vom Konsumieren wieder auszubügeln.


Ich muss kein alternatives Leben führen damit es nicht so auffällt wie oft ich mich zudröhne.


Ich bin so frei wie man es nur sein kann.

Abhängigkeit definiert sich für mich nicht länger von der Bindung an einen bestimmten Wohnort oder eine feste Arbeit und einen sich wiederholenden Rhythmus.


Ich bin nicht eingefahren oder langweilig, weil ich mich nicht ständig verändere und große Geschichten von fremden Ländern zu erzählen habe.


Für mich sind Menschen nicht frei, die grandiose Dinge tun, von denen sie sich am Abend mit Betäubungsmitteln erholen müssen oder die sie nur mit deren Hilfe zustande bringen.

Für mich sind Menschen frei, die ein Leben führen, von dem sie sich nicht mit Hilfe von Substanzen und selbstschädigendem Verhalten täglich ablenken und emotional runterholen müssen.


Ich bewundere immer wieder, was man zu erschaffen vermag mit Hilfe dieser Treibstoffe.


Aber ich bin mir sicher, dass so ein Leben mich niemals wieder glücklich machen würde und ich bezweifle, dass es das für die Menschen tut, die es so leben.


Gleichzeitig ist es vermutlich anmaßend mir darüber ein Urteil bilden zu wollen. Ich kann nur aus meiner eigenen Erfahrung schließen. So nehme ich meine eigene Erkenntnis mit, die da lautet:


Ich brauche keine Weltreise, keinen Kleinbus und kein alternatives Hippieleben, um frei und glücklich zu sein. Ich mag meine kleine langweilige Wohnung im Block, meinen ruhigen und unspektakulären Alltag zwischen Bett, Sofa, Kühlschrank, Telefon, Tagebuch und einigen Kurzbesuchen bei meinen Herzensmenschen.


Ich mag es morgens zu wissen was mich in etwa erwartet und selbst zu entscheiden wie ich meinen Tag verbringen. Ich mag es auch einige Fixpunkte zu haben, eine Struktur und eine stabile Basis.


Das Hier und Dort, das Hin und Her, das Ungewisse und Haltlose, das hatte ich so viele Jahrzehnte lang und es hat mich krank gemacht und süchtig nach künstlichem Halt.

Ich bin dankbar für all die Sicherheit die ich mir bis heute erschaffen durfte und ich schätze meine Fähigkeit, Pläne zu haben und sie umzusetzen, auch wenn sie unspektakulär sind und nicht instagramtauglich.


Ich schätze auch das Fenster, das sich mir immer wieder öffnet zu anderen Lebensentwürfen, um all meine übrigen Zweifel ablegen zu können, selbst das Falsche zu tun und zu langweilig zu sein.


Ich brauche das alles nicht mehr. Ich muss nicht mehr fliehen, um unabhängig zu sein.


Ich bin so frei wie ich mich selbst lasse. Und gerade fühle ich mich äußerst wohl in meinem nüchternen Leben, in meinem kleinen gemütlichen Nest und mit dem Wissen und der Sicherheit, dass um mich herum ganz viele Menschen und Anker sind, an die ich mich halten kann, sollte wieder Sturm aufkommen.


Und wenn mir das doch alles mal zu langweilig wird nehm ich meinen Corsa und fahr mit Dirk in ein langweiliges Hotel im Harz.



 
 
 

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