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Beitrag: Blog2 Post

Blätterkrokant im November

  • 10. Dez. 2022
  • 5 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 12. Dez. 2022

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Ich war´s nicht - ED war´s !!

Neulich im Netto


Vor mir an der Kasse steht eine beleibte Frau Ende 40. Sie packt einen Berg Süßigkeiten und zwei Eimer Stracciatella-Joghurt aufs Band.


Sie sieht original aus wie meine Mutter.

Also, wie die Version von ihr, die mir in Erinnerung geblieben ist.


Kurze fettige Haare, Augenringe, ca. 20 kg Übergewicht und eine überdimensionierte Regenjacke in Aldi-Blau wie ein Ganzkörperkondom übergestülpt.

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Dieser Joghurt - damit war unser Kühlschrank immer voll.


Und das Krokant hat sie in der Eckbank versteckt  - damit ich es nicht finde und vor Weihnachten schon auffresse.


Aber ich hab’s immer gefunden ... und meine Mutter hat dann irgendwann mit mir zusammen gefressen.


Abends, auf dem Sofa mit Sitzkule, gemeinsam vor dem Fernseher haben wir das verdammte Zeug tütenweise vertilgt und dabei Olsenbande geguckt.


Das war schön.


Die wenigen schönen Abende, an die ich mich mit ihr erinnere -

da war immer auch das Krokant am Start!


Und Vanilleeis vom Spar-Markt.

Die große 2-Liter-Packung.


Wir haben es immer lange auftauen lassen und dann mit dem DDR-Mixer gerührt, das schmeckte dann fast wie Softeis.


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Die dicke Frau an der Kasse tut mir so leid, als sie ihr Kleingeld auf dem Kassentisch auszählt.


Ich weiß nicht warum.


Vielleicht ist sie ja total happy und glücklich mit sich und ihrem Leben.


Und doch erregen alle Menschen, die meiner Mutter ähnlich sehen, sofort Mitleid in mir - gleichzeitig aber auch Traurigkeit und Wut. Besonders wenn sie dick sind.


Ich fühle mich dann schlecht dabei, weil ich solche dummen oberflächlichen Vorurteile in mir trage -aber sie sind einfach da und ich krieg sie nicht aus meinem System.


Wie oft hat sie damals versucht abzunehmen oder irgendwas an ihren Haaren, ihrem Make-Up, ihren Klamotten zu verschönern.


Sie fand sich so hässlich.


Und wenn ich ehrlich bin, war ich auch total erschrocken, als sie so aufgeschwemmt aus der Klinik kam, damals beim ersten Aufenthalt ...wegen der ganzen Tabletten.


Ich hab ihr oft gesagt:


Lass es sein mit dem Abnehmen und der Selbstabwertung. Das bringt doch eh nix in deinem Alter und es ist doch für uns alle wichtiger, dass es dir gut geht.


Wem willst du denn damit gefallen, dich immer so komisch anzumalen und dünner zu werden?


Die Kerle in deinem Alter, die nicht verheiratet sind, haben entweder einen am Zeiger oder sind sonstwie gestört. Die brauchst du nicht. Und ich auch nicht.


Kauf dir deine Schokolade, guck Fernsehen mit mir und scheiss einfach drauf. Hauptsache es geht dir besser.


Quäl dich nicht ständig mit dir selbst rum.


Mach, was dir Spaß macht und warte nicht bis sich irgendein Kerl mal erbarmt, es mit dir gemeinsam zu tun.


Und ich - heute - was mach ich hier grad jeden Tag?!


Genau denselben Shit!


Kaufe Gemüse und Halbfettjoghurt und Fresskekse für ED im scheiss Discounter statt mich irgendwo allein hübsch mit Apfelstrudel ins Café zu hocken an meinem freien Nachmittag und mein zweites Leben zu feiern.


Naja - Kerle sind mir ja echt egal.

Außer ED. Er will nicht, dass ich aus dem Leim gehe.

Da ist er sich auch einig mit meinen Großeltern. Diese dicken Leute, die sind alle krank. Das muss auch nicht sein wenn man sich im Griff hat. Meine Mutter hatte sich eben nicht im Griff. Immer diese süssen Säfte. Und das ganze "gekooofte Zeug" - wenn man selbst immer schön kocht jeden Tag "passiert sowas" nicht.


Sowas. Passiert. Wie ein Krieg! Wie ein Unfall.


Ich will kein Unfall sein. Nicht maßlos. Nicht unkontrolliert.


Ich will nicht anderen Menschen leid tu,n weil ich so hässlich, unförmig, einsam und müde als abgenutzte Mittvierzigerin schon im November fünf Tüten Blätterkrokant an der Netto-Kasse bezahle - und dann noch mit Kleingeld.

War ich damals vielleicht als einziges Kind einer kranken allein erziehenden Mutter eine Art eifersüchtiger Ersatz-Partner geworden? War ich damals ein ED geworden, der sie klein gehalten und ihre wahren Möglichkeiten nicht genug gefördert hat?


Hätte ich sie öfters ermutigen sollen raus zu gehen, Sport zu machen, sich zu zeigen, selbstbewusst zu werden?


Auch mit ihrem ganzen Musikambitionen, den Auftritten die sie gern machen wollte mit Gitarre und so...


Ich hab mich immer so geschämt dafür. Ich hätte mir gewünscht, sie wäre wie all die anderen "normalen" Mütter gewesen. Man, war ich dämlich!


Später als ich etwas älter und "reifer" war hab ich’s dann auch versucht ...


Hab sie mit geschleppt, zum Dorffasching - verkleidet als Alien, damit mein Vater sie nicht erkennt - als ob der sie nicht erkannt hätte, nur wegen der komischen Gipsmaske mit Alufolie beklebt..


Ich hab auch oft meine Freunde zu uns nach Hause geholt um zusammen zu spielen, damit sie nicht allein bleibt und traurig wird...


Wäre eh sinnlos gewesen irgendwohin zu gehen für länger - weil ich immer mit einem Gedanken zuhause war. Ich wußte sie ist einsam, wenn ich weg bin.


Es ist kurios, aber rückblickend betrachtet hatten wir wohl sowas wie eine Ersatz-Ehe. Es gab nur sie und mich. Und auch wenn es oft anstrengend war, irgenwie hatte es ja auch was "exklusives". Keiner meiner Freunde hatte so viel Aufmerksamkeit wie ich. Als Einzelkind und wenn die Mutter nicht arbeitet, da hat man eben den Fokus. Bis heute kann ich es nicht ab, wenn mehr als zwei Leute im Raum mit mir sind. Ich möchte den Vieraugenkonktakt. Ich möchte meine Freunde nicht "teilen". Krass, wenn ich drüber nachdenke.

Als sie dann anfing mit dieser Weigth-Watchers-Gruppe gab es kein Eis mehr. Und kein Krokant. Und eine andere Gruppe, einen anderen Fokus, der plötzlich wichtiger war als ich.


Im Nachhinein denke ich, der Entzug von Süßigkeiten war gleichzeitig der Wegfall von so einer Art verschwörerischem Mutter-Tochter-Ritual - ein Bruch in unserer ohnehin sehr labilen Beziehung.

Und wer schon mal Diät gemacht hat - Zuckerentzug - der weiß, wie "giftig" und gereizt man dabei ist. Das allein reicht schon, um Familien zum Explodieren zu bringen, ich hab da mal eine Reportage drüber geschaut.


Das Essen und das Abnehmen waren also wichtiger als ich. Die Gemütlichkeit, die Gemeinsamkeit gingen verloren. Dazu war es die Zeit, in der öfters mal fremde Typen in unserem Wohnzimmer saßen, wenn ich nach Hause kam. Ich habe versucht offen damit umzugehen, aber toll fand ich es nicht. Ich habe ihr gewünscht, dass sie wieder Halt und Bestätigung findet. Leider hielt es nie sehr lange.


Die Typen waren ziemlich ätzend, trotzdem rannte sie ihnen ewig hinterher. Peinlich. Am Ende haben sich die Kerle noch bei mir über sie ausgeheult. Was für ein Scheiß.


Irgendwann hat sie dann das mit den Typen wieder aufgegeben.


Und auch die Diät.


Ich nicht.

Ich war stark.

Ich wollte stark sein.

Und ich wollte schön sein.


Natürlich wollte ich das.


Natürlich wollte ich nicht so enden wie sie-

mit Ende 30 ohne Mann und Job und aufgeschwemmt und bedürftig nach

dummen Typen und Anerkennung.


Natürlich wollte ich ihr und mir beweisen, dass ich das alles besser kann.

_________

Ich stehe an der Netto-Kasse

mit Tränen in den Augen.


Ich sehe das Low-Carb-Gemüse und die drei Becher fettarmen Joghurt vor mir auf dem Band und muss einfach heulen.


Wegen dieser Frau vor mir, wegen mir selbst und weil ich jetzt gern auf meiner Couch sitzen würde.


Mit Olsenbande und Blätterkrokant und Vanilleeis aus dem Mixer.


Und mit meiner Mama.


Wir würden in Kontaktanzeigen bei Bumble stöbern und über die hässlichen dummen Typen dort lästern -  wie die Gilmore Girls.


Aber zuhause ist niemand.

Nur meine Couch.

Und ED.


Und jetzt auch noch 2 Liter Vanilleeis aus dem Netto, die ich gleich noch in mich rein stopfen und danach ins Klo kotzen werde.


Schließlich will ich nicht mit Mitte 40 abends allein, traurig und fett auf der Couch enden.


Wenn schon allein und traurig, dann wenigstens schlank.


Das Gewicht - das hab ich wenigstens unter Kontrolle.




 
 
 

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