Applaus für den Schokopups
- Leo

- 6. März 2023
- 5 Min. Lesezeit

Gerade habe ich eine Stunde mit meinem Papa telefoniert und ihm von meinem „Höhlenexperiment“ erzählt.
Zuerst hatte ich Angst ihm zu sagen, dass ich mich habe krank schreiben lassen.
Es war mir peinlich zuzugeben, dass ich gerade all meine Kraft dafür brauche, immer das Gegenteil dessen zu tun was meine Sucht mir sagt.
Ihm und mir einzugestehen, dass ich den ganzen Tag so gut wie nichts tun kann außer essen, schlafen und hoffen, dass alles bald leichter wird, das fällt schwer.
Er hat sich alles sehr verständnisvoll angehört und freut sich sehr für mich. Über meinen Entschluss mich nicht mehr weiter selbst zu verarschen und über den Mut, diese Entscheidung hier und heute für mich treffen zu können.
Ich habe ihm erzählt, dass ich wie von Zauberhand plötzlich einen vollen Kühlschrank haben kann ohne ihn gleich wieder leer fressen zu müssen. Auch dass ich Käsebrezel mit Ei und Pfannkuchen mit Schokopudding essen kann ohne zu kotzen oder noch zwanzig weitere essen zu müssen.
Zuletzt habe ich noch erwähnt, dass mich seine Freude über meinen Fortschritt in gewisser Weise schon wieder unter Druck setzt. Denn wenn es, wie er sagt, Balsam für seine Seele ist, sich meine Erfolge anzuhören, ist es vermutlich Essigsäure für seine Seele, wenn mal wieder Tage kommen, an denen es nicht so gut läuft.
Er meint das sei nicht der Fall. Er könne inzwischen ganz gut einschätzen, dass ich durchaus allein zurecht komme, er nicht immer den Retter spielen muss wenn mal was nicht läuft und mir zutraut, dass ich all das durchstehen kann.
Auch dass er versteht und es nicht als Rückschlag ansieht, wenn ich hin und wieder schwierige Phasen habe.
Ich fühle mich wie ein Kleinkind, dass die ersten Schritte tut und für jeden Meter den Beifall seiner Eltern einfordert. Fünf Minuten später fällt es auf den Hintern, schreit, heult, kackt in die Windel und versteckt sich aus Scham, weil es so stinkt.
Papa findet, ich müsse mich nicht verstecken wenn es stinkt. Er sagt jeder kackt mal ein und daran sei nichts Verwerfliches. Man muss ja nicht gleich drüber schimpfen und noch drauf hauen.
Mir fällt ein, wie der Sohn unserer Nachbarin einmal eingekackt hat. Seine Mutter war daüber so erbost, dass sie ihm mit der flachen Hand aus Wut so doll auf die volle Windel drauf gehauen hat, dass dabei die gesamte frisch gewischte Treppe im Neubaublock mit seinen Hinterlassenschaften dekoriert wurde. Der arme Junge ist heute 45 Jahre alt und immer noch spricht man im Dorf hinter vorgehaltener Hand über dieses Ereignis.
Vermutlich habe ich deshalb so eine Angst vor dem „Einkacken“ - was soll denn die Familie denken, wenn man im wahrsten Sinne des Wortes „Scheiße baut“ und das raus kommt... dann schimpfen sie und zerreissen sich alle das Maul.
Also besser nix sagen und alleine durch...
Wie blöd das ist habe ich heute nach unserem Telefonat wieder gemerkt.
Es beruhigt und erleichtert mich ungemein, dass wir inzwischen einen so offenen Umgang miteinander haben. Dass wir gemeinsam über solche Dinge lachen können und sie uns nicht mehr vorhalten. Es macht alles so viel einfacher.
Wir müssen uns nicht mehr nur übers Wetter oder irgendwelche Banalitäten aus dem Fernsehen austauschen und all die Themen aussparen, die uns wirklich gerade beschäftigen. Leider ist das bei mir nun mal gerade das verdammte Thema Essen und Körper. Bei Papa ist es weiterhin sein Holz und ja, auch mal das Wetter.
Aber trotzdem hört er sich alles geduldig an, gibt kurz seine mal mehr mal weniger qualifizierte Meinungen dazu ab und ich versuche ihm all das was in mir vorgeht irgendwie in vereinfachter Form zu erklären. Das klappt immer besser.
Ich bewundere seine Geduld als Zuhörer. Denn ich merke immer wieder, wie ich geistig abdrifte, sobald er mit Geschichten vom Dorf, von den Nachbarn und seinem Holz anfängt. Auch hier brauche ich vermutlich noch viel Geduld mit mir.
Denn auch das Zuhören muss ich neu lernen. Früher habe ich oft automatisch auf Durchzug geschalten. Lange habe ich mich darüber aufgeregt, wie sehr ich dieses oberflächliche Gewäsch über Wetter und andere Leute hasse.
Doch inzwischen wird mir immer mehr klar: Ich hätte längst eine andere Tiefe in unseren Gesprächen entwickeln können wenn ich es gewollt und zugelassen hätte. Doch ich wollte es nicht. Denn ich hatte viel zu viel zu verbergen und zu verheimlichen. Alles was ich sagte und tat diente der Verschleierung der Wahrheit. Wir beide hatten Angst, über all den tiefen Shit zu sprechen, der wirklich gerade auf dem Tisch lag. Denn keiner wußte damit was anzufangen. Es stank einfach nur furchtbar und wir hatten keine Mistgabeln.
Zum Glück ist das jetzt anders. Und mit jedem Gespräch fällt es mir leichter, nicht nur meine eigene Wahrheit zu sprechen, sondern auch die meines Gegenübers anzunehmen ohne ständig irgendwelche Verbesserungs- oder Lösungsvorschläge geben zu müssen. Früher hatte ich zu allem was mein Papa erzählte oder vorhatte eine Meinung.
Meistens keine gute. Ich habe vieles von dem was er sagte und tat irgendwie gering geschätzt oder innerlich abgewertet.
Heute kann ich darüber nachdenken. Und auch wenn ich manches anders umsetze oder denke, kann ich ihm seine Meinung lassen und habe nicht mehr ständig den Impuls ihn zu verbessern.
So müssen wir nicht mehr für den anderen mitdenken und können uns um unseren eigenen Kram kümmern.
Wenn mal was schief geht, gibt es auch kein „Ich habs dir ja gesagt“ sondern eher ein „OK- dann lass uns überlegen wie es besser funktionieren kann“.
Auch muss sich dadurch keiner mehr schämen, wenn mal was nicht so funktioniert wie wir es uns vorgestellt haben. Früher wäre es peinlich geworden, einen Fehler zuzugeben, vor dem der andere ja bereits gewarnt hatte. Wir können stattdessen offener aufeinander zugehen, über alles sprechen und füreinander da sein. Vor allem auch Danke sagen für das was wir aneinander haben.
Es ist wirklich ein völlig neues Gefühl der Verbindung, immer mehr auf Augenhöhe.
Ich fühle, dass ich wachse. Und ich frage mich, ob wir gerade wirklich gemeinsam und aneinander wachsen oder ob mein Papa schon die ganze Zeit so groß war und ich es einfach nicht sehen konnte.
Nach dem Auflegen empfinde ich große Erleichterung und vertilge weitere zwei Apfelpfannkuchen mit Schokoquark ohne schlechtes Gewissen – einfach weil ichs kann und Bock drauf habe.
Niemand hindert mich mehr daran.
Zwar habe ich immer noch diese Stimme meiner Großeltern im Kopf, die mir erzählen, wie ungesund das alles ist und dass man so viel Süsses ja gar nicht braucht und die Hälfte auch reicht und wir uns den Rest ja noch für morgen aufsparen können und bla und bla und bla.
Doch heute bin ich nicht mehr bereit dieser Stimme der Generation Kriegstrauma und Mangelwirtschaft zuzuhören. Ich lasse die Sätze in meinem Kopf an mir vorbeifliegen.
Sie zerplatzen am Ende meiner Vernunft wie unbunte Seifenblasen aus einer alten Zeit – die mit viel zu wenig Spüli drin.
Stattdessen forme ich eine neue große warme Blase aus warmen Schokopudding-Pups mitten in meine zerknautschte Jogginghose und freu mich drüber.
Mein Opa würde jetzt sagen: „Warum rülpset und furzet ihr nicht – hat es euch nicht geschmecket?“
Und Oma würde ihn brüskiert anschauen und sagen: „Opa, solche Sprüche am Esstisch - das gehört sich doch nicht!“




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