Achterbahnfahren auf dem Schwippbogen- Christbaumglück versus ED -
- Budystin

- 25. Dez. 2022
- 6 Min. Lesezeit

Das war er also - der "Heilige Abend" 2022.
Der perfekte Heiligabend.
Irgendwie.
Und irgendwie auch nicht.
Ich sitze spät Abends auf meiner Couch und versuche zu fühlen, wie ich mich fühle.
Es war eine emotionale Ganztags-Achterbahnfahrt.
Mein Kopf ist noch immer zu laut, als dass ich wirklich wahrnehmen kann, was da ist in mir.
Ich bin glücklich und ich bin traurig.
Ich bin dankbar und enttäuscht.
Ich bin ruhig und ich bin aufgekratzt.
Ich will in diesem Gefühl der Perfektion versinken und gleichzeitig raus in die Stadt, feiern, die Welt einreißen und weinen vor Glück, mich austauschen über das was heute passiert ist, will es auswerten, will hören was andere Menschen heute gedacht und gefühlt haben - weiß aber auch, dass ich sowieso schon völlig überladen bin mit Gedanken und Gefühlen und besser daran tun würde einfach schlafen zu gehen.
Aber ich kann nicht.
Ich kann nicht einfach schlafen gehen und diesen Tag in meinem Herzen einschließen und zufrieden sein.
Ich muss alles auswerten, zerdenken, anzweifeln.
Meine Geschenketüten von Oma, Opa und Papa habe ich inzwischen ausgepackt.
Es war Geld drin. Und Süßkram.
Auch ein bischen Obst und eine Karte. Alles liebevoll verpackt.
Diese Geschenke - ich kann mich nicht einfach drüber freuen.
Ich denke: Warum schenken sie mir immer wieder Geld und Süssigkeiten?
Ich habe doch oft genug gesagt, dass ich damit nicht klar komme und dass ich ihr Geld nicht will.
Warum sparen Sie sich jeden Cent vom Mund ab und geben mir dann einen Haufen Scheine zu Weihnachten, obwohl sie wissen, dass ich gut versorgt bin.
Haben sie solche Schuldgefühle?
Und wie kann ich ihnen die nehmen?
Will ich ihnen die überhaupt nehmen?
Ist es nicht so, dass ich tief in mir drin überzeugt bin, dass sie tatsächlich eine große Mitverantwortung für meine Lage tragen und das Geld irgendwie als "Energieausgleich" betrachte - so nach dem Motto: Ihr habt den Mist mit verzapft, dann könnt ihr mir jetzt auch helfen, da raus zu kommen.
Kurz denke ich drüber nach, dass ich dieses Geld nehmen und damit weitere Stunden bei meiner Coach zahlen werde. Ich brauche jemanden, der mir hilft, die letzten Schritte zu gehen - raus aus der Sucht, rein in die totale Freiheit. Einen unabhängigen Dritten, der mir hilft, in diesem inneren Chaos den roten Faden zu finden.
Aber brauche ich wirklich jemanden der mir hilft? Schließlich habe ich die meisten der Schritte, die ich gegangen bin allein geschafft und einfach nur manchmal ein Schulterklopfen, einen Anstoß und einige gute Bücher und Texte aus dem Internet gebraucht von Menschen, die das schon geschafft haben.
Will ich vielleicht das Geld der Familie deshalb für Coaching ausgeben, weil ich glaube, sie sind mir das schuldig und ich muss es jetzt dafür verwenden und für nichts anderes, um meinen Teil der Verantwortung, meinen Teil des Deals "Geben und Nehmen" zu erfüllen und endlich gesund werden, weil ich ihnen das schuldig bin, dass endlich alle zufrieden sein können?
Ich weiß es nicht, ich weiß nicht was richtig ist, ich weiß nicht was ich tun soll und wie ich mich entscheiden soll.
Ich weiß nur, dass ich schon auf dem Nachhauseweg merke, dass diese Kekse in den Weihnachtstüten die Nacht nicht überleben werden. Gegen Zucker und Süßkram in meinen Händen fühle ich mich noch immer machtlos. Besonders an solchen emotionsgeladenen Tagen. Ich brauche sie als Puffer, als Ausgleich der Gefühle und Gedanken, die ich stundenlang unterdrücken und in mir halten musste.
Mein Kopf erzählt mir unentwegt: Sei doch zufrieden, sei dankbar, schau wie lieb und niedlich sie sind, lach drüber, lass dich nicht beirren, nimm es dir nicht an, sieh es locker.
Mein Bauch schreit:
Du willst weg hier. Es ist so anstrengend. Sie wollen nur was gut machen. Es ist nicht lustig. Es tut dir weh, nicht gehört zu werden. Es kostet dich Kraft, so zu sein, dass du keine Fehler machst, nichts falsches sagst, eine gute Zuhörerin bist, all deine eigenen Themen zurück hälst um des lieben Friedens Willen. In dem Moment wenn ich all diese Gedanken denke und all diese ambivalenten Gefühle fühle kippt sie, meine innere Sicherheit, dass ich es schaffen kann, dass ich sie aushalten und überwinden kann, all meine Ängste. Besonders auch die vor dem Zunehmen.
Und dann fresse ich.
Fünf Stunden Gefühle und Gedanken - Kopf sagt ja, Bauch sagt nein, Kopf sagt nein, Bauch sagt ja - der Wasserball schnippst hoch, ich drücke ihn runter. Den ganzen Tag.
Ein Kraftakt.
Wer bin ich wirklich?
Welcher Teil von mir ist es, der da gerade denkt und fühlt und bewertet - und welcher ist ED?
Ich bin müde - bin ich müde oder will ED nach Hause und Kekse fressen?
Ich bin wütend - bin ich wütend oder ist ED wütend?
Ich lache - lache ich wirklich oder spiele ich es?
Alles ist so anstrengend...
Ich höre die Geschichten von Oma und Opa, von früher, von vor und nach dem Krieg und ich finde sie spannend - aber irgendwann schalte ich auch gedanklich immer wieder ab, wünsche mich woanders hin, vor die Tür, in mein Bett oder in irgendeinen abgewrackten Nachtclub.
Ich kann nichts mehr aufnehmen.
Dabei habe ich mir so lange gewünscht, dass sie was erzählen von früher.
Damit ich sie besser verstehe. Weil ich so lange viel zu wenig gefragt und viel zu wenig zugehört habe. Und jetzt, da sie endlich mal den Mund aufmachen, bin ich abgelenkt. Und müde. Und voll mit Gedanken und Gefühlen, die ich gerade völlig unpassend und überflüssig finde. Warum verdirbt ED mir immer diese Momente? Warum ist er so laut in mir, dass so viel anderes keinen Raum mehr hat?
Oder ist es überhaupt kein ED der da schreit - oder bin ich es selbst?
Bin ich es, die eigentlich lieber mal über all die Dinge und Erlebnisse sprechen würde, die so passiert sind in den letzten 20 Jahren - aber die immer abgewürgt wird oder überhört, wenn ich mich endlich mal öffne -und dann höre ich: "Das ist ja zum Glück vorbei - darüber brauchen wir nicht mehr sprechen jetzt." Und es wird weiter gegessen. Denn heute esse ich ja fein mit, also alles gut und Oma ist glücklich und Opa verliert langsam seine Stirnrunzelfalten, weil er merkt, dass ich mir "Mühe gebe" und beim Umziehen wieder mehr Fleisch an meinem Oberarm baumelt. Und ich freue mich dass sie sich freuen.
Aber sie hören nicht, was ich höre.
Sie hören nicht. wie sehr ich mir wünsche, über all das mit ihnen sprechen zu können, was in meiner "Kriegszeit" so passiert ist.
Wie ich mich gefühlt habe, als die "Russen kamen" und mich aus meiner Wohnung vertrieben haben. Darüber wie ich mich gefühlt habe, als mein privater Raum besetzt war. Oder in all den Kliniken mit nur einem Bett und einem Schrank, ohne nichts weiter, so wie Opa in der Militärkaserne oder Oma als Flüchtling. Ich würde gern reden über all die Zeiten, in denen ich nur schlafen, arbeiten und kotzen konnte damit ich das überlebe. Und dass sich das so kalt angefühlt hat wie Omas Strohschuhe im Winter 1945.
Ich möchte reden und erzählen, all die Geschichten aus meinem jahrelangen Kampf und mich erleichtern. So wie sie es mit ihren Geschichten tun.
Aber ich kann es nicht.
Weil es nicht den Feind gibt in meinen Geschichten.
Die "Russen" oder die "Nazis" die sich gegenseitig abgeschlachtet haben.
Sondern es gab "Den Vater", "die Mutter", "die eine Oma" und "die andere Oma".
Und dann noch das Jugendamt, die Therapeuten, den Exmann, die Kinder und mich.
Ein Vielfrontenkrieg in jahrelanger emotionaler Kälte und vollkommener innerer Einsamkeit, von dem offenbar außer mir keiner wirklich was gemerkt hat.
Ein kalter Krieg mitten in unserer Familie.
Und sie waren beteiligt. Wie kann ich da wagen drüber zu sprechen?
Und dann noch an Weihnachten?
Natürlich will da heute keiner drüber reden.
Daran will sich keiner mehr erinnern.
So wenig wie sie sich an all die Grausamkeiten aus ihrer Kindheit erinnern möchten an diesem Weihnachtsabend.
Und ich frage mich unablässig, ob das denn wirklich sein muss. Ob man wirklich all diese alten Geschichten raus holen muss mitten unter dem perfekten Christbaum.
Ich stelle mir diese Frage, nachdem ich zuhause alle Kekstüten leer gefressen und ins Klo gekotzt habe, mein Kopf und mein Bauch endlich wieder frei sind, weil der Wasserball endlich raus ist aus mir.
Ich sitze hier und frage mich, warum ich es wieder nicht geschafft habe Stand zu halten.
Oder ob ich deshalb nicht Stand halten kann, weil ich all diese alten Geschichten immer wieder runter drücke und nicht haben will.
Ist das der Grund, warum ich immer wieder fresse?
Ist das der Grund, warum Oma seit 50 Jahren keine Nacht durchschlafen kann?
Ist das der Grund, warum Opa so ungnädig an all seinen eingefahrenen Routinen und Regeln festhält, die ihn schützen vor dem Fühlen?
Ist das der Grund, warum so viele Menschen am Weihnachtsabend "noch mal raus" müssen, sich betrinken, Kette rauchen oder ausrasten, obwohl doch eigentlich alles ganz harmonisch war?
Lieber Weihnachtsmann, kannst du kommen und es mir erklären bitte!




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